Goodbye Istanbul

To whom it may concern … wen das hier angeht? In erster Linie mal mich selbst. So ist das, wenFestivaln einen Wehmut und Fernweh im Doppelpack erwischen. Strike! Wenn wir die Zeitzonen mal nicht ganz so genau nehmen, läuft jetzt unsere Dokumentation über den türkischen Künstler, Politiker und Vorzeigeintellektuellen Zülfü Livaneli auf einem Festival in den USA. Natürlich freuen wir uns wie narrisch, wenn der Film in aller Welt gezeigt wird, aber mein eigener Blick auf den Streifen und die neue politische Lage in der Türkei und in Europa hat sich seit 2013 dramatisch verändert. Mir kommt „Zülfü Livaneli – A Voice Between East and West“ mittlerweile vor wie ein Abgesang. Eine Melodie der vertanen Chancen. Goodbye Istanbul!

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In Boston, auf dem 15. Turkish Film Festival, wird „Zülfü“ also heute noch einmal gezeigt, im renommierten Museum of Fine Arts (MFA). Der Film bekommt dort den Publikumspreis des etwas kleineren Dokumentarfilm-Festivals ein paar Monate zuvor. Offenbar trifft er immer noch einen Nerv beim Publikum. Wann immer ich selbst an einer Podiumsdiskussion teilnehmen kann, ist das Gespräch mit den Zuschauern lebhaft bis leidenschaftlich. Viele Türken im Ausland blicken mit Sorge auf ihr Land, in dem sie zwar nicht leben, das aber immer noch einen Platz in ihren Herzen hat. Heute können wir leider nicht dabei sein. Weder meine beiden Co-Autoren Orhan Çalışır und Cengiz Kültür noch ich konnten den Überseetrip antreten: zu viele neue Projekte. Es geht halt immer weiter … nur in diesem Film scheint die Zeit an einem entscheidenden Wendepunkt stillzustehen.

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Es ist der Anfang der Gezi-Bewegung. Zülfü Livaneli fordert gemeinsam mit tausenden Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul mehr Demokratie. Das Bild in den weltweiten Nachrichten prägen aber eher die Wasserwerfer, das Tränengas und die vielen Verletzten jener Tage. Unser Film beginnt mit Szenen wie in einem Bürgerkrieg und endet mit einer Utopie: Immer dann, wenn sich die Menschen in dieser großartigen und so geschichtsträchtigen Stadt Istanbul oder auch Konstantinopel auf den Plätzen versammelt hätten, seien die Fundamente der Macht erschüttert worden, sagt Zülfü Livaneli. Dann habe es Regimewechsel gegeben. „Und ich glaube, jetzt erleben wir wieder solch einen historischen Moment …“

Die Tragik dieser letzten Worte im Film ist, dass sie zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Juni 2013 alles andere als utopisch klangen. Da lag was in der Luft am Bosporus. So viele junge Menschen gingen friedlich auf die Straßen, so viele Bilder haben sich mir eingeprägt von tanzenden und singenden Menschen, die einfach nur ihr Leben leben wollen, ohne dass der Staat ihnen vorschreibt, was sie alles zu lassen haben. Untertanen, kein Alkohol! Mädchen, nicht diese kurzen Röcke! Der einstige Volksversteher Recep Tayyip Erdogan hat sich zum militanten Moralapostel und Sultan aufgeschwungen, der mit den Vorschriften klein anfängt und alle, die anders sind und das auch öffentlich sagen und leben, schnell zu Staatsfeinden und Terroristen erklärt.

Der große Spalter Erdogan

Seitdem werden in der Türkei wieder Oppositionelle und Journalisten weggesperrt, Zeitungen unter staatliche Kontrolle gestellt, Menschenrechte mit Füßen getreten. Die Aussöhnung mit den Kurden – nicht mehr auf der Agenda, seit der große Spalter Erdogan andere Pläne hat. Wer hätte im Sommer vor drei Jahren all die Toten vorhergesehen, die dieser Konflikt mit sich bringt? Bomben in Istanbul und Ankara? Dazu die europäische Flüchtlingskrise, in der die Türkei eine Schlüsselrolle spielt und sich ihrer Macht mehr als bewusst ist. All das hat dieses Land verändert. Verwundet. Die Opposition in der Türkei blutet. Und von der Gezi-Bewegung ist nicht viel mehr übrig als ein Jucken. Da war doch was … vorbei!

Man spricht in solchen Fällen gerne von einer „Momentaufnahme“, wenn ein Film eben nicht mehr der Realität entspricht, wenn er mehr ein historisches Dokument ist. Bei mir überwiegt an diesem Morgen die Traurigkeit. Ich kann nur hoffen, dass die Zuschauer in Boston und sonstwo mehr mitnehmen als das. Ich wünsche es ihnen!