Frage: Was war die erste Geschichte in Ihrem Kopf? Schwer zu sagen, klar. Anders gefragt: Welche Geschichten aus Ihrer Kindheit sind hängen geblieben? Denken Sie nach. Gehen Sie zurück. Schürfen Sie in Erinnerung. Rauf auf Mamas Schoß. Husch in die Heia, mit Papa auf der Bettkante, mit Oma und Grimms Märchen in den Sofa-Kissenberg. Und was finden Sie?
Bilder! Vielleicht sogar noch mehr …
Geschichten können sprechen. Sie riechen. Sie fühlen sich an. Und sie hinterlassen im Kopf eben diese Bilder, die man bestenfalls nicht vergisst. Bilder! Entstanden durch Worte, durch Vorlesen, durch Erzählen. Schließen Sie die Augen! Sehen Sie den Wolf? “Damit ich Dich besser fressen kann!” Das rote Käppchen? Geschichten erzeugen Bilder im Kopf. Das ist ein Naturgesetz.
Aber warum tun wir uns trotzdem so schwer damit, Bilder und Worte zusammenzubringen? Warum kommt immer wieder der Vorwurf, man banalisiere die Literatur mit Beigabe von Bildern? Im Land der Dichter und Denker gilt als Prophet, wer die reine Lehre predigt. Bilder und Töne und Musik und Farben und Gefühle sollen bitteschön im Kopf entstehen. Man erzähle die Geschichte mit einfachsten Mitteln und maximaler Wirkung. Das sei die Kunst. Immer gewesen. Vom Lagerfeuer über Gutenberg bis zum World Wide Web.
Sehr kurz gedacht! Denn es geht auch anders. Sagen wir mal: Hitchcocks Vögel oder Scotts Blade Runner. Vom Leben der Anderen bis zur Blechtrommel ist es auch in Deutschland nicht weit vom Buch zum Film. Wer hat sie zum Beispiel gerade gesehen, die mehrfach ausgezeichnete Dokumentation The Gatekeepers über den israelischen Geheimdienst Schin Bet? Oder vielleicht zum zigsten Mal Michael Moores Bowling for Columbine? Die ARD-Doku zum miesen Geschäftsgebaren von amazon? Journalismus at its best. Erzählt mit Bildern und Tönen und Worten.
Und so könnte man das Spielchen weiter treiben – der Gedanke aber sollte jetzt doch klar sein: In der Welt da draußen gibt es mehr, als unsere Schulweisheit uns träumen lässt. Mieses Pathos … Aber verdammt nochmal: Warum nicht?! Lasst uns doch!
Gutenberg hat uns mit seinen Lettern die Möglichkeit gegeben, Bücher zu machen und die Geschichten zwischen zwei Deckel zu pressen. Damals war Deutschland weit vorne. Heute lohnt sich ein Blick in die USA, um zu sehen, wie sich das Medium weiterentwickelt. Wie selbstverständlich gehen Schriftsteller mit ihren Stories ins Netz, wechseln Autoren die Seiten und machen Filme. E-Book-Verlage und Special-Interest-Magazine werden zu Tausenden gegründet. Print oder online? Egal! Verlag oder Self-Publishing? Je nach Projekt. Entweder oder? Warum das denn?!
Multimedia Storytelling – das ist in den USA längst ein geflügeltes Wort. Multimediales Geschichtenerzählen. Viele Pioniere sind etabliert und verdienen Geld mit ihren Projekten. Ein Beispiel ist die Plattform The Atavist Monat für Monat erscheint dort ein neues E-Book, das den Namen oft genug sprengt: The Last Clinic ist ein Film (49 Minuten) von Maisie Crow, gepaart mit einem Essay von Alissa Quart. Ein Hybrid-Projekt über die drohende Schließung der letzten Abtreibungsklinik im Staat Mississippi. Ein beeindruckender Blick hinter die Frontlinien von Ärzten, fundamentalistischen Abtreibungsgegnern und verzweifelten Frauen.
Oder diese schier unglaubliche Abenteuer-Story Half-Safe von Ben Carlin und seiner Frau Elinore, die 1948 auszogen, die Welt zu umrunden – mit nur einem einzigen Fahrzeug, einem alten Amphibien-Auto der US-Army, das beim Militär wegen Untauglichkeit ausgemustert wurde. No fiction! It’s the real thing! Der Autor und Journalist James Nestor erzählt diese Geschichte sprachlich brillant. Schnörkellos auf den Punkt. Und er nutzt alle Möglichkeiten, die ihm Multimedia Storytelling bieten: Fotos, Musik, Töne, Grafiken, Landkarten, Animationen und sogar kleine historische Filmschnipsel. So präzise informiert und atemberaubend nah kommt man selten einer historischen Figur. Und im Todeskampf des ersten Kapitels, als die Eheleute Carlin samt ihrer Blechbüchse zu ertrinken drohen, fühlt man sich auch nicht von ungefähr erinnert an Sebastian Jungers Klassiker The Perfect Storm von 1997 und den Hollywood-Film von Wolfgang Petersen. Rekonstruktion einer Tragödie: Der Untergang eines Fischtrawlers in einem legendären Sturm. Junger ist dabei Journalist und Literat zugleich. Und sein Adept James Nestor mit Half-Safe ist ebenfalls beides und noch mehr: ein Multimedia-Storyteller reinsten Wassers, der wie selbstverständlich Elemente nutzt, die viele hierzulande für verzichtbar halten.
Brauchen wir deshalb neue Erzähler? Nein. Aber mehr Aufgeschlossenheit! Mehr Fantasie für die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. Mehr Spaß und Abenteuerlust. Mehr Risiko. Die Geschichten werden nie sterben. Video didn’t kill the Radio Star. Und Strombücher werden Gutenbergs Druckbücher nicht ersetzen. Ergänzen aber wohl. Und so wird es künftig eben beide geben: den klassischen Schriftsteller – und den multimedialen Geschichtenerzähler.
Willkommen in der Gegenwart!
Strombuch